Der Mensch lebt nicht nur von Brot... Matthäus 4, 4
Die Isolation dauerte 3 Jahre und bestand nicht aus vier Wänden, sondern der endlosen Weite Zentralrusslands.
Als der Dichter Ossip Mandelstam und seine Frau, Nadescha, die ihn begleitet hatte, in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aus der Verbannung von Woronesch nach Moskau zurückkehrten, war die erste grosse Frage, ob ihre kleine Wohnung noch frei war, und die zweite, wie es ,den Franzosen' ging. Dabei hätten sie allen Grund gehabt, sich Sorgen zu machen. Selten kehrte jemand aus der Verbannung in sein altes Leben zurück. Eine noch erhaltene Wohnung konnte kaum Gutes bedeuten.
,Statt durch die Erörterung unserer Lage, die nur zu erschreckenden Schlüssen hätten führen können, in Resignation zu verfallen, liessen wir alle unsere Sachen mitten im Zimmer stehen und gingen sofort zu ,den Franzosen' im kleinen Museum in der Kropotkin-Strasse.
,Sollte ich jemals zurückkehren,' sagte O.M. [Ossip Mandelstam] in Woronsch immer wieder, ,gehe ich sofort zu ,den Franzosen.' Maria Wenjaminowna Judina [eine Freundin] wusste, wie sehr er die französische Malerei vermisste.' (Nadescha Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe, 2020, S. 334)
Es ist erst wenige Monate her, seit ich zum letzten Mal im Museum gewesen bin. Doch die Sehnsucht des Verbannten nach Kunst und Schönheit kann ich bereits jetzt gut nachfühlen. Das Hemd, das ich in der Manor wegen geschlossener Läden nicht kaufen gehen kann, kann ich bestellen. Die Schönheit und Freude, die ich im Museum (oder Kino, Konzert, Stadion, Theater...) erlebe, kann ich nicht bestellen.
›Der Mensch lebt nicht nur von Brot. Nein, vielmehr lebt er von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt‹, sagt Jesus. Man liest das gewöhnlich als Aussage über die Bedeutung des ,Wortes Gottes' (theo-logie'). Doch heute lese ich es als Aussage vor allem über das, was mich Menschen nährt. Es ist nicht nur das Materielle. Es ist ebenso das Immaterielle. Zum Brot auf dem Tisch des Abendmahls gehört der Wein. Des Lebens Füllle schmeckt man erst, wenn zum Lebensnotwendigen das nicht Notwendige kommt, Überschüssige kommt, das die Freudengeister belebt. Die Franzosen.
So gesehen ist die Kirche für das Wort Gottes das, was die Franzosen für das Museum an der Kropotkin-Strasse ist.
philipp.roth@erk-bs.ch
Kirchgemeinde Kleinbasel
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