Behandelt andere Menschen genau so,wie ihr selbst behandelt werden wollt. Matthäus 7, 12
Katastrophenstimmung. Der Mensch auf sich zurückgeworfen und verängstigt. Wie zeigt er sich dem andern, als Wolf oder als Samariter? Ich wäre mit der Antwort schnell zur Hand. Und höre mit Erstaunen und Beschämen eine Sendung, die vom Gegenteil erzählt.
Im August 2005 peitschte Hurrikan Katrina über New Orleans. Die Deiche brachen und 80 Prozent der Häuser wurden überschwemmt. Es war die verheerendste Naturkatastrophe in der Geschichte der USA. Die Medien berichteten von Raubüberfällen, Vergewaltigungen und Plünderungen. Von Schüssen auf Rettungshubschrauber. Und nicht zuletzt von zahlreichen Morden. Die Gouverneurin war schockiert: „Solche Katastrophen offenbaren oft die schlechtesten Seiten der Menschen.“
Inbegriff des Schreckens war der Superdome, in dem 30.000 Menschen Unterkunft gefunden hatten. Ein fassungsloser Bürgermeister berichtete von bewaffneten Gangmitgliedern, die dort wahllos vergewaltigten und mordeten. Die Bewohner seien in einem beinahe animalischen Zustand. Berichte bezifferten die Zahl der Toten auf rund 200.
Um dem Grauen Herr zu werden, befahl der Bürgermeister 1.500 Polizisten, sofort ihre Hilfs- und Rettungsaktionen abzubrechen und gegen Plünderer, Vergewaltiger und Mörder vorzugehen.
Die Wahrheit kam ans Licht, als die Journalisten verschwunden und das Hochwasser abgepumpt worden war. Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des US-Repräsentantenhauses schrieb: „Viele der Medienberichte, insbesondere über zügellose Gewalt im Superdome, scheinen vollkommen unbegründet gewesen zu sein.“ In Wirklichkeit waren im Superdome nicht 200, sondern nur sechs Tote zu beklagen. Vier starben an natürlichen Ursachen, einer an einer Überdosis und ein Mensch hatte Suizid begangen.
Tatsächlich waren ein Großteil der Menschen nicht mitleidlose Egoisten, die über Leichen gingen, sondern spontane Altruisten. So kamen Wissenschaftler der Katastrophenforschungsstelle der Universität Delaware später zu dem Schluss, dass das spontane Verhalten überwiegend prosozial geprägt war. ,In Notsituationen kommt das Beste im Menschen zum Vorschein,' fasst der niederländische Historiker Rutger Bregman zusammen. ,Ich kenne keine andere soziologische Erkenntnis, die gleichermaßen sicher belegt ist und dennoch gänzlich ignoriert wird.'
Ein Hauptgrund für die vollkommen
verzerrte Darstellung dürfte das Vorurteil über das Wesen des Menschen
sein, denke ich. Und ein fruchtbarer Nährboden dafür war und ist das negative Menschenbild des Christentums, besonders der Tradition, die im Menschen durch und durch verdorbene und verlorene Sünder*innen sieht, die nur durch Busse und Bekehrung zu retten sind. In den USA wird sie zudem durch apokalyptische Vorstellungen verstärkt, die in Filmen und Serien genüsslich zelebriert (und im Sturm aufs Capitol inszeniert) werden. New Orleans als Sodom und Gomorra. Die Katastrophe als göttliches Strafgericht. Und die Berichterstattung weidet sich an Bildern, die schon Hieronymus Bosch heraufbeschworen hatte. Sie sieht, was sie sehen will.,Selfulfilling prophecy'.
Die Pandemie velangt viel Solidarität. Nicht jeder findet für sich die Massnahmen sinnvoll. Und nicht jede ist gleich verletzlich und profitiert von den Massnahmen. Die Rechnung geht nur auf, wenn man sie für alle macht. Analog zum Bekehrungsmodell geht auch der Kapitalismus von einem egoistischen Menschen aus. Das freie Spiel der Eigeninteressen schafft auch für die Gemeinschaft nur das beste. Wirklich?
Wo kämen wir hin, wenn wir mal ganz dem Spiel der Hilfsbereitschaft vertrauten?
Ich staune seit Monaten, dass die harten, Selbstbescheidung und Altrusimus verlangenden Massnahmen auch in demokratischen Staaten im allgemeinen so gut und friedlich angenommen werden. Vielleicht sind wir im Wesen doch viel sozialer und altruistischer, als ich gedacht habe. Wir können und wollen nicht nur für uns da sein.
Ich müsste umdenken. Und täte das dafür ganz gern.
Und unsere ganz auf Eigeninteresse abstellenden Systeme müssten das auch.
philipp.roth@erk-bs.ch
Kirchgemeinde Kleinbasel
(Quelle: Altruismus - Der Mensch in Zeiten der Katastrophe, Deutschlandfunk, 19.7.2020)
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