Denn es ist hier kein Unterschied: Die Menschen sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen - und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade... Römer 3, 23
Noch ein Unwort des Jahres. Nach ,Übersterblichkeit', ,Superspreader' und der buchstäblich ,demonstrativen' Vernichtung des einst so schönen Wortes ,Querdenker' nun also noch ,Maskensünder' - sogar ungegendert. Der Nationalrat diskutiert darüber, wie die Maskensünde bestraft werden soll. Und erinnert etwas an ein kirchliches Konzil.
Während man in der Kirche das Wort ,Sünder*in' kaum mehr ungestraft sinnvoll gebrauchen kann, muss es in der moralisch aufgeladenen Öffentlichkeit regelmässig herhalten.
Ich hab mal gelernt, dass die klassische Theologie die Unterdisziplin Hamartiologie kennt: ,Lehre von der Sünde'. (Klingt deftiger, als es ist 😉) Diese unterscheidet zwischen zwei Grundsünden: a) Begehungs-/Tatsünden und b) Unterlassungssünden.
Während man bei a) was falsch macht, ist es bei b) falsch, etwas nicht zu machen. Die zweite Gruppe war schon immer schwerer zu fassen. Und auch schwerer zu heilen.
Muss man bei den Tatsünden einfach aufhören, etwas zu tun (Kinderbeispiel: Kaugummi zu klauen) und allenfalls etwas gestehen und wieder gut machen, ist bei der zweiten schon das Erkennnen der Sünde beträchtlich schwerer (Kinderbeispiel: Ich könnte der Nachbarin helfen, die Einkaufstasche zu tragen, aber kam gar nicht auf die Idee). Und das Gutmachen verlangt nicht nur eine einzelne Tat, sondern eine Verhaltungsänderung.
,Maskensünder' sind klassische Unterlassungssünder. (,Maskensünder*innen' wären es natürlich auch.) Aber weil sie vielleicht gar nicht verstehen oder anerkennen, dass es beim Masken tragen in erster Linie um den Schutz der anderen geht, geben sie die Maskensünde als Heldentat oder Freiheitspflicht aus. Und das macht die moralische Frage schon verzwickter. Sind sie auch Sünder, wenn sie gar keine Unterlassung, sondern eine Tat sehen? Ihr Gewissen ist sich vielleicht keines Unrechts bewusst, im Gegenteil. Sie zeigen ,nicht vorsätzlich' unmaskiert Gesicht, würde man vor Gericht sagen.
Wie ist es eigentlich bei der Klimasünde? frage ich mich.
Warum spricht der Nationalrat nicht von Waffensünde (wenn Kriegsmaterial in Konfliktgebiete verkauft wird - wissentlich oder nicht)? Oder von Investitionssünde - wenn Pensionskassen in umwelts- oder menschenrechtsschädigende Geschäfte investieren?
Güllensünde wäre bei der Trinkwasserdiskussion noch ein griffiges Wort (Das Kürzel ,Gülsü' würde geradezu türkisch klingen und dem noch eine überraschende Geruchsnote hinzufügen...)
Und wie müsste man die Sünde benennen, die darin besteht, Flüchtlinge, die man aufnehmen müsste/könnte, nicht aufzunehmen? Oder Leuten, die Intensivpflege benötigten, kein Bett anbieten zu können?
Der Nationalrat löst die Frage der Maskensünder pragmatischer, als es die kirchlichen Konzile in der Regel taten. Und ich merke, wie man in einem reichen Land in einer globalen Welt bei den Unterlassungssünden sonst kaum mehr so einfach in Sicherheit kommt.
Wenn Paulus schreibt, dass wir ,allzumal Sünder sind', dann meint er mehr als die Maskensünder. Und das finde ich sehr bedenkenswert... gerade in dieser Zeit der Sehnsucht nach dem, was heilt - klassisch: nach dem Heil.
Philipp Roth
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