Da sagte der Engel zu ihr: Hab keine Angst, Maria. Durch Gottes Gnade bist du erwählt. Lukas 1, 30
Ich suche mir das Bild wieder hervor.
Wir haben es diesen Herbst in Venedig entdeckt.
Wir benutzten die Gelegenheit, die Lagunenstadt ohne Amerikaner, Chinesen und Kreuzfahrtkolosse zu besuchen. Man musste nirgends anstehen.
Es ist eine Verkündigung. Der Engel kündigt Maria die Geburt von Jesus an.
Normalerweise sitzt Maria fromm da und liest in ihrem Stundenbuch. Ganz vornehme Dame der Renaissance. Und der Engel Gabriel huscht von links ins Bild wie ein Bote aus einem anderen Fürstenhaus, seine Bedeutung ganz der Rolle verdankend.
Ganz anders die Begegnung hier: Wie der Wilde Mann in seinem Tanz hängt der Engel Gabriel einen Meter in der Luft, eingefroren in seiner wildesten und freudigsten Pirouette, und offeriert mit seiner Linken die weisse Lilie, während seine rechte mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben piekst.
Für Maria ist das deutlich zuviel. Zu lange war es still. Zu lange war sie allein. Zu sehr hatte sie sich an den Gedanken gewöhnt, eh allein in ihren vornehmen vier Wänden zu sitzen. Erschreckt drückt sie sich ganz rechts an die Wand, soweit weg, wie es geht.
Als Kind gab es diese Kaugummiblasenwettbewerbe. Wer kann die grösste Blase machen? Mit meinen billigen Migroskaugummis kam ich nie weit. Am besten ging es mit den rosa Bazooka-Kaugummis vom Kiosk. Gut durchgekaut konnte man mit ihnen eine Blase machen, in die man beinahe den eigenen Kopf hätte stecken können. Ebenso spassig war es dann, die Blase zum Platzen zu bringen. Manchmal war man eine Weile damit beschäftigt, die rosa Fäden vom Gesicht zu sammeln.
Der Engel Gabriel in diesem Bild erinnert mich mit seinem Tanz und seinem spitzen Finger an einen Blasenpiekser. Maria lebt in ihrer Blase, in der kleinen Bubble einen jungen einfachen Frau mit ihren Träumen und Alpträumen. Keine Ahnung, was das Leben von ihr will. Will sie eigentlich, dass alles anders wird? Oder will sie, dass alles so bleibt? Wer weiss, ob sie es weiss?
Der Engel piekst ihre Blase auf. Es knallt. Sie erschreckt. Und ihr Leben erhält einen Sinn, den sie nie erwartet hätte. ,Fürchte dich nicht, du Begnadete!' Himmel küsst Erde. Engel Magd. Erlösung Leere.
Man kann dieses Jahr als Blasenwettbewerb sehen. Jede und jeder in seiner Bubble. Deutlicher und undurchdringlicher wurden sie. Wie erreicht man sich noch, wenn man Abstand halten muss? Im Innern breiten sich Leere aus und Gedanken und Gefühle, die man so noch nie hatte.
Die Ankündigung der Weihnacht ist die Ankündigung, dass die Blase platzt. Du bist nicht so allein, wie du denkst. Du bist nicht so unbedeutend, wie du empfindest. Du wirst gesehen und gebraucht. Warts ab. Und freu dich.
Päng - ,Fürchte dich nicht, Begnadete*r!'
philipp.roth@erk-bs.ch
Kirchgemeinde Kleinbasel
Bild: Paolo Caliari ,Veronese’, Die Verkündigung, 1578 (Accademia di Belle Arti di Venezia)
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