Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
Psalm 24, 7
Der Winter drängt noch verstärkt in die eigenen vier Wände.
Man sieht die Welt durchs Fenster.
Ich habe eine Scheibe.
Geht es dem Menschen da draussen wie mir hier drinnen?
Leben wir in getrennten Welten?
'Wand,' ,Mauern', ,Scheibe' tauchen regelmässig auf, wenn Menschen mit Depressionen ihren Zustand beschreiben. Und damit verbunden der Zweifel, ob die dort auf der anderen Seite überhaupt noch fühlen oder verstehen können, wie es mir hier geht.
Ich stosse auf einen Tagebucheintrag von Hermine Wittgenstein über ihren Bruder Ludwig aus dem Jahr 1919. Nach der Rückkehr von der Front entschied sich Ludwig gleich doppelt gegen einen vorgezeichneten Weg: Er schlug sein Millionenerbe aus. Und er schlug seine philosophische Genialität aus, wie gemacht für eine akademische Laufbahn. Stattdessen wollte er Volksschulehrer auf dem Land werden. Heute weiss man, dass Ludwig damals von schweren Depressionen geplagt wurde. PTSD kannte man noch nicht.
,Seinen zweiten Entschluss (Volksschullehrer) konnte ich selbst zuerst gar nicht verstehen, und da wir Geschwister uns sehr oft durch Vergleiche miteinander verständigten, sagte ich ihm, es schiene mir, als wollte jemand mit einem Präzisionsinstrument eine Kiste öffnen.
Darauf antwortete Ludwig mir mit einem Vergleich, der mich zum Schweigen brachte:
,Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiss nicht, welcher Sturm draussen wütet und dass dieser Mensch sich vielleicht nur mir grösster Mühe auf den Beinen hält.' (gekürzt)
Gestern feierten wir den 1. Advent. Die Adventszeit singt von neuen Wegen und offenen Türen. Gott wird zum Mauerspecht, der an den Trennwänden rummeisselt, bis sie fallen. Und wenn sich der Staub verzogen hat, liegt da ein Kind, das jedes Herz erweicht.
In diesem Advent ist diese Arbeit auch zwischen uns Menschen nötiger den je.
Die Isolation lässt auseinander driften.
Die depressive Stimmung isoliert.
Ich weiss nicht, ,welcher Sturm da draussen wütet.'
,Macht hoch die Tür' klingt in diesem Jahr wie ein Appell, sich nicht in der eigenen Blase zu verlieren. Da geht ein Mensch vor dem Fenster vorbei. Und wenn ich rausgehe, gehe ich vor dem Fenster anderer vorbei. Es ist ganz einfach, die Mauer zu zerbrechen. ,Macht hoch die Tür....'
Philipp Roth
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