Direkt zum Hauptbereich

Aus der Welt gefallen

Vielmehr sind gerade die Teile des Körpers,
die schwächer zu sein scheinen,
umso notwendiger. 1. Korinther 12, 22

Es ist einfach verrückt, sagt sie.
Plötzlich kann man einfach nicht mehr nach Hause.

Wir sind auf dem Weg zum ersten Gottesdienst im Haus.
Nach über drei Monaten.
In den Augen und unter den Falten
kann man den Zorn im Gesicht des Teenagers ahnen
achtzig Jahre jünger.
Frisch und jung wie der Morgen ist er.

Und dann konnte auch kein Besuch mehr kommen,
sage ich.
Ja, das war das Allerschlimmste, sagt sie.
Man war richtig eingesperrt.
Wie im Gefängnis.
Aber jetzt ist das anders?
Ja. Und nächste Woche kann ich heim.

Es berührt mich immer,
wenn Demenz den doppelten Boden öffnet.
Sie spiegelt und kommentiert die Zeit.
Kindlich unschuldig reagiert sie auf Ungeheuerlichkeiten,
die ich manchmal nicht mal sehe.
Und wenns genug ist,
springt sie ganz aus der Welt hinaus.

Im Gottesdienst spreche ich davon,
dass wir alle Teile eines grossen Organismus sind.
Paulus nennt ihn ,Christus'.
Vielmehr sind gerade die Teile des Körpers,
die schwächer zu sein scheinen,
umso notwendiger.(1. Korinther 12, 22)

Eine erblindete Frau seufzt laut zustimmend.
Ihr Gegenüber seufzt laut gelangweilt.
Was in drei Monaten geschehen kann,
stellt eine Helferin fest und deutet auf eine Besucherin,
die die ganze Feier mit wachen Augen stumm da sass.
Sie ist in dieser Zeit verstummt.

Als wir mit den Rollstühlen aus dem Lift kommen,
drängt die demente Frau bereits wieder rein.
Wo muss ich hin? sagt sie.
Ich bringe sie zum Zimmer, sage ich .
Die Pflegefachfrau übernimmt.
Ich gehe jetzt heim, sagt die Frau.
Bis zum nächsten Mal! sage ich.
Der Teenager in ihr kichert.
Welches nächstes Mal?

Philipp Roth

Sonntag, 28. Juni, 10:00, Theodorskirche
Abschiedsgottesdienst Pfrn. Christine Dietrich
mit Balz Streiff, Alphorn u.a.
auch als Livestream

Weiteres Onlinematerial auf unserem Youtubekanal

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

liedlos glücklich?

Tragt euch gegenseitig Psalmen und Hymnen und geistliche Lieder vor. Singt für den Herrn und preist ihn aus vollem Herzen !  Epheser 5, 19 Ich warte gerne mit einem Blog, bis sich die Gedanken etwas gesetzt und geklärt haben. Diesmal gelingt es nicht. Ab Pfingsten dürfen wir uns wieder in der Kirche zum Gottesdienst versammeln. Noch ist nicht entscheiden, wie das bei uns konkret aussehen wird. Noch ist auch nicht entschieden, ob das, was dann stattfinden kann, sich annähernd so anfühlen wird, wie das, was mal war. ,Der Weg zurück ist schwieriger als der Weg heraus,' ist bereits ein geflügeltes Wort. Und in unserem Fall ist das ,zurück' hauptsächlich örtlich zu verstehen. Von der E-Church geht es wieder in die Reality-Church. Darauf freue ich mich. Auf die analogen Begegnungen, das Grüssen, in die Augen schauen und ins Gesicht sagen. Einander gegenüberstehen und sich spüren. Und auf das direkte Miteinander in unseren schönen, erinnerungsgetränkten Gemeinschaftsräumen, man...

Dichtes Gedränge

Daran will ich denken und mich in meiner Seele erinnern, dass ich einherging in dichtem Gedränge, mit ihnen ging zum Haus Gottes mit lautem Jubel und Dank in feiernder Menge.  Psalm 42, 5 Nun ist das social distancing auch in den Träumen angekommen. Es muss ein Geburstagsfest gewesen sein. Oder eine Silvesterparty. Es war spät und draussen war es kalt. Am Buffet wurde gequatscht und sämtliche Sitzgelegenheiten waren besetzt. Manche sassen auf dem Boden oder standen in der Küche. Wie lange ist es her, seit ich das das letzte Mal erlebte? Ich liebe solche open houses, solche nicht choregraphierten Parties. Kommt einfach. Müsst nichts mitbringen. Oder einfach, was ihr habt. Es hat genug. Hauptsache zusammensein. Eines Blase Sorglosigkeit am Freitagabend. Man kommt und geht. Und so, wie man's macht und wie es ist, ist es gut. Nicht Etikette, Personen sind die Hauptsache. Die Erinnerung an dieses Glück muss irgendwo in meinem Unterbewusstsein erwacht sein. Die Sehnsucht danach. Wenn es ...

Nähe mit Abstand

Public celebrating am Pfingstsonntag in der Thedorskirche / Bild: Rudolf Steiner ...damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.  Psalm 91, 12 Um die Relationen zu sehen muss man über die eigene Nasenspitze hinaus sehen. Ich habe die Kirche vom letzten Sonntag vor Augen. Der Schmerz zusammen getrennt und getrennt zusammen zu sein. Und die Angehörigen die seit 3 Monaten nicht zu ihrer Mutter im Alterszentrum können. Ärgerlich! Und lese am gleichen Tag wie ein Sohn das Verschwinden seines Vaters im überforderten Gesundheitssystem in Queens NYC beschreibt. Aus einem vitalen 60-Jährigen noch nie im Spital wird ein positiv Getesteter der zunächst nur zur Überwachung ins Spital kommt dann immer stärkere Atemnot kriegt bis er intubiert und beatmet werden muss. Der Kontakt beschränkt sich aufs Handy. Vom Spital niemand erreichbar. Schliesslich eine letzte SMS: ,Ich kriege eine Narkose. Ich liebe dich.' Erst Tage später der Anruf des Arztes. ,Ihr Vater ist letzte Nacht gestorben.' ,Ich h...